Die deutsche Krankheit und die japanische Krankheit    Toru Kumagai

Universitaet Augsburg  27. November 2006

1                    Einleitung

Meine sehr geehrte Damen und Herren,

Professor Hanusch, Frau Oshima-Gerisch,

ich moechte mich zunaechst herzlich bedanken, dass Sie mir eine Gelegenheit gegeben haben, hier einen Vortrag zu halten. Es ist eine grosse Ehre fuer mich. Ich moechte mich Ihnen kurz vorstellen. Ich bin in Tokio geboren und habe in Tokio Volkswirtschaftswissenschaften studiert.

Ich habe 8 Jahre beim japanischen oeffentlich-rechtlichen Fernsehsender NHK (Japanisches Fernsehen) als Redakteur und Korrespondent gearbeitet. Als Fernsehreporter habe ich nicht nur in Japan, sondern auch in Deutschland, Polen, der damaligen Sowjetunion, in den USA und Nahost recherchiert. Ich habe auch als Auslandskorrespondent in Washington DC ueber die amerikanische Politik berichtet.

Seit 16 Jahren wohne ich in Muenchen und arbeite als freiberuflicher Journalist fuer verschiedene japanische Medien.

Bisher habe ich 7 Buecher ueber Deutschland in Japan veroeffentlicht und arbeite im Moment an meinem achten Buch ueber Deutschland.

2            Aehnliche Symptome zwischen Deutschland und Japan

Mein letztes Buch, das ich im August in Japan veroeffentlicht habe, handelt sich um die wirtschaftlichen, und demographischen Herausforderungen, mit denen sich Deutschland und Japan im 21. Jahrhundert auseinandersetzen muessen. Der Titel ist: ?Was kann man von der deutschen Krankheit lernen?g.

Ich habe dieses Thema ausgewaehlt, weil Deutschland und Japan meiner Meinung nach beide vor einer harten Probe stehen und zum Teil aehnliche Probleme haben.

Diese zwei Laender haben aehnliche geschichtliche Hintergruende und Probleme.

Beide Laender haben nach dem Zweiten Weltkrieg den Angriffskrieg als Fortsetzung der Politik verurteilt und haben sich damit abgefunden, auf der Buehne der internationalen Machtpolitik Zwerge zu bleiben. Wir haben uns stattdessen auf die Steigerung des wirtschaftlichen und sozialen Wohlstands konzentriert.

Wir beide haben mehr Wert auf die Verbesserung der Produkte und der Arbeitsablaeufe in der Produktionsstaette gelegt, als auf die Ausdehnung der geopolitischen Machtsphaere. Die Rechnung ging auf, und wir haben beide ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum realisiert und sind zu den wichtigsten Exportnationen der Welt geworden.

Unser Wohlstand in Deutschland und Japan kann sich sehen lassen. Aber es stellt sich jetzt die Frage, ob es sich noch in Zukunft halten laesst. Ich sehe sogar einige Anzeichen in beiden Laendern, dass dieser Wohlstand ohne ausserordentliche Anstrengungen und Kurskorrekturen nicht mehr zu halten ist.

Zwei Patienten zeigen zum Teil aehnliche Symptome. Ich nenne einige Beispiele. Diese Symptome sind zum Beispiel,

-         relativ hohe Arbeitskosten im Vergleich zu Nachbarlaendern

-         der Rueckgang der internationalen Wettbewerbsfaehigkeit

-         relativ niedrige Wachstumsrate

-         schleppende Deregulierung

-         relativ spaet angefangene Anpassung an die Globalisierung

-         die schnelle Alterung der Gesellschaft

-         die sinkende Geburtenrate

-         hohes Defizit und Reformbeduerftigkeit der gesetzlichen Sozialversicherung

-         hohe Staatsschulden und Haushaltsdefizit

-         schrumpfende Mittelschicht

-         wachsende soziale Ungerechtigkeit

-         Bildungsmisere

-         wackelnde traditionelle Werteinstellungen

Es sind typische Symptome fur hoch entwickelte Industrielaender, die sich nicht rechtzeitig an die Globalisierung der Wirtschaft angepasst haben. Aufstrebende Nachbarlaender mit niedrigeren Arbeitskosten folgen den beiden Laendern auf den Fersen.

Ich habe in meinem Buch die strukturellen Probleme in Deutschland detailliert dargestellt. Heute moechte ich nur ein paar Beispiele nennen.

3.  Arbeitslosigkeit in Deutschland

Es ist erstaunlich, dass es der Bundesregierung auch 16 Jahre nach der Wende nicht gelingt, die Zahl der Arbeitslosen substantiell zu senken. Die Massenarbeitslosigkeit ist fast Dauerzustand geworden.

Ich finde den Ansatz der Arbeitsmarktreform ?Hartz IVg richtig, weil es mehr Arbeitslose zur Wiederaufnahme der Arbeit auffordern sollte. Wir sehen erste positive Anzeichen, und es ist erfreulich, dass die Arbeitslosenquote letzten Monat zum ersten Mal seit 4 Jahren unter die Marke von 10% gesunken ist.

Trotzdem haben wir immer noch mehr als 4 Millionen offiziell registrierte Arbeitslose.

Ausserdem gibt es so genannte ?versteckte Arbeitsloseg, zum Beispiel die Personen, die umgeschult werden oder in ABM-Unternehmen beschaeftigt sind. Diese Personen tauchen nicht in der Statistik auf. Wenn man diese Personen beruecksichtigt, sind praktisch immer noch mehr als 5 Millionen Personen ohne Job.

Ich finde es besorgniserregend, dass immer mehr junge, qualifizierte Ostdeutsche nach Westen abwandern, weil sie in den neuen Bundeslaendern keine Zukunft sehen. Die bluehende Landschaft im Osten, die Helmut Kohl in der Euphorie der Wiedervereinigung vorausgesagt hat, ist nicht entstanden.

Ich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung keine wirkungsvolle Loesung gegen den Teufelskreis in den Neuen Bundeslaendern hat. Ich finde es problematisch, dass wir kein Licht im Tunnel sehen, obwohl wir jedes Jahr fast 5% des Bruttoinlandsprodukts nach Osten transferieren.

Ich sehe immer mehr Anzeichen, dass sich die Buergerinnen und Buerger in den Neuen Bundeslaendern im Stich gelassen fuehlen und nach einer anderen Werteinstellung suchen.

Ich finde es alarmierend, dass die Rechtsradikalen zunachst in Sachsen und dann vor kurzem in Mecklenburg-Vorpommern Sitze im Landtag bekommen haben. In der Stadt Postlow im Landkreis Oberpommern hat die NPD einen Stimmenanteil von 38,6 % bekommen.

Dahinter steckt selbstverstaendlich die Frustration der Waehler uber die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung. Grosse, traditionelle Parteien scheinen vor dieser Entwicklung im Osten ratlos zu sein.

Viele in Westdeutschland sind an dieser Problematik nicht interessiert und denken, dass dieses Phaenomen voruebergehende Erscheinung ist. Ich war oft in den Neuen Bundeslaendern und bin der Meinung, dass es kein vorubergehendes Phaenomen ist.

4.  Hohe Arbeitskosten

Eine wichtige Ursache der Massenarbeitslosigkeit sind die hohen Arbeitskosten in Deutschland im Vergleich zu mittel- und osteuropaeischen Laendern und Asien. Die Globalisierung hat diese Schwachstelle der deutschen Wirtschaft gnadenlos blossgelegt.

Nicht nur die Produktionsstaette sondern auch Verwaltungs- und Logistikzentren werden nach Polen oder in die Tschechische Republik verlegt.

Ich habe in meinem Buch das deutsche Sozialversicherungssystem nicht nur als Symbol des Wohlstands sondern auch als wichtigen Grund der hohen Arbeitslosigkeit genannt.

Die Bundesregierung haette kurz nach dem Mauerfall und den Revolutionen in den mittel- und osteuropaeischen Landern sofort mit den Bemuehungen anfangen sollen, die Arbeitskosten durch die Sozialreform zu senken.

Die Rueckkehr der mittel- und osteuropaeischen Lander in die globale Marktwirtschaft bedeutet einen enormen Arbeitskostennachteil fuer Deutschland. Aber wer kuemmerte sich um den Unterschied der Arbeitskosten, als Deutschland wiedervereinigt wurde, und die Polen und die Tschechen die Demokratisierung gefeiert haben?

Die deutsche Wirtschaft hat wegen der Wiedervereinigung eine kurze Belebung der Konjunktur erlebt. Deswegen haben die Bundesregierung und deutsche Unternehmen versaeumt, sich umzustrukturieren und die Arbeitskosten zu senken.

Anfang 90er Jahre haben sich die Regierungen und Unternehmen in England und Skandinavien mit schmerzlichen Reformen befasst, und konnten deswegen die Arbeitskosten senken.

Ich finde es insbesondere besorgniserregend, dass selbst gut ausgebildete Universitaets- und Hochschulabsolventen immer mehr Schwierigkeiten haben, einen festen Arbeitsplatz zu finden, und dass immer mehr junge Leute laengere Jahre als Praktikanten arbeiten muessen.

5.  Unterschied zu Japan

Als ich vor 16 Jahren nach Deutschland kam, war ich uber die Grosszuegigkeit des Sozialversicherungssystems, die kurze Arbeitszeit im Vergleich zu Japan, die Macht des Betriebsrats und die Mitbestimmung erstaunt. In Japan ist es immer noch unvorstellbar, dass ein Angestellter jedes Jahr 30 Tage bezahlten Urlaub nehmen darf.

Als ich in Japan gearbeitet habe, musste ich mich beim Vorgesetzten entschuldigen, um eine Woche Urlaub zu nehmen. Japanische Angestellte haben praktisch immer noch kein Recht, laengeren Urlaub wie in Deutschland zu nehmen.

Wer jeden Tag lange im Buro sitzt und keinen langen Urlaub nimmt, gilt den Vorgesetzten als loyal und wird befoerdert. Bei uns sind die Woerter wie Kuendigungsschutz, Sozialplan und Interessenausgleich voellig unbekannt. Japanische Angestellte haben normalerweise keinen Arbeitsvertrag, es sei denn, dass man bei einem auslaendischen Unternehmen in Japan arbeitet.

Ich finde es menschlich, dass jeder Angestellte und Arbeiter in Deutschland das Recht auf Freizeit und laengeren Urlaub hat. Es ist in Japan gar nicht selbstverstaendlich.

Aus Sicht der Arbeitnehmer ist zwar dieses Sozialsystem erfreulich, aber es nagt an der Wettbewerbsfaehigkeit der deutschen Wirtschaft. Laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft zu verschiedenen Ranglisten zur internationalen Wettbewerbsfaehigkeit hat Deutschland den 14. Platz unter den 21 Industrielaendern. Japan ist uebrigens nur um einen Platz besser als Deutschland. 

Auch die Arbeitskosten in Japan sind hoher im Vergleich zu ostasiatischen Laendern. Aus diesem Grunde verlagern immer mehr Unternehmen Produktionsstaette nach China und anderen asiatischen Laendern. Die Direktinvestition der japanischen Unternehmen in China ist zwischen 2003 und 2004 um 49% gestiegen, waehrend die gesamte japanische Direktinvestition im Ausland nur um 7,5% gestiegen ist.

Trotz der Verlagerung der Produktionsstaette ins Ausland sank interessanterweise die Arbeitslosenquote in Japan laut OECD von 5,4% im Jahr 2002 auf 4,7% im Jahr 2004. Es ist ungefaehr die Haelfte der Arbeitslosenquote in Deutschland. Der Rueckgang ist zum Teil auf die kurzfristige Verbesserung der Konjunktur und die Uberbindung der Bankenkrise in Japan zurueckzufuhren.

Warum ist die Arbeitslosenquote in Japan niedriger als in Deutschland trotz der Verlagerung der Produktionsstaette?

Laut OECD betrug die Staatsquote Japans letztes Jahr 36,9%. Es ist um fast 10 Prozentpunkte weniger als Deutschland. Die Japaner geben weniger als 20% des Bruttosozialprodukts fur Sozialleistung aus, waehrend fast ein Drittel des Bruttosozialprodukts in Deutschland als Sozialleistung verwendet wird.

In Japan ist der Sozialgedanke nicht so weit verbreitet wie in Deutschland, und das Sozialnetz nicht so engmaschig wie in Deutschland. Laut Institut der Deutschen Wirtschaft waren die Arbeitskosten pro Stunde im verarbeitenden Gewerbe in Japan im Jahr 2004 um 38% niedriger als in den alten Bundeslaendern. Die niedrige Arbeitslosenquote in Japan ist auf die niedrigeren Arbeitskosten im Vergleich zu Deutschland zurueckzufuehren.

6.  Schrumpfende Mittelschicht

Die japanische Wirtschaft profitiert ausserdem vom Niedriglohnsektor, dessen Anteil im Arbeitsmarkt schnell waechst. Laut einer Statistik stehen heute 33,2% der Beschaeftigten nicht in einem festen, unbefristeten Arbeitsverhaeltnis, sondern arbeiten als Teilzeitkraft oder Assistent, die von Zeitarbeitfirma an die grossen Unternehmen geschickt werden.

Immer mehr junge Japaner meiden ein festes Arbeitsverhaeltnis, weil sie nicht lange unter den Vorgesetzten arbeiten wollen, die sie oft als inkompetent und arrogant betrachten. Und sie legen grosen Wert auf Freizeit und flexible Arbeitszeit. Diese Leute sind ?Freeterg genannt.

Das Wort  ?Freeterg kommt von ?free Arbeiterg, also eine freie Person, die nur jobbt. Die japanische Regierung schaetzt die Zahl der Freeter auf 4,1 Millionen und erwartet, dass diese bis 2010 um 14% wachsen wird.

Wenn Sie einmal in Tokio waren, muessen Sie hohe Lebenshaltungskosten bemerkt haben und sich wundern, wie jemand im Niedriglohnsektor das teure Leben in Tokio ueberleben kann.

Viele junge Japaner koennen sich leisten, im Billiglohnsektor zu bleiben, weil sie oft keine Miete zahlen muessen, indem sie im Elternhaus wohnen. Auch die Eltern sind gluecklich, wenn die Kinder lange mit ihnen zusammenwohnen.

Diese Hilfskraefte im befristeten Arbeitsverhaeltnis haben oft keine Gehaltserhoehung und bekommt keine Betriebsrente und Abfindung. Dieser Personenkreis hat eine grosse Rolle bei der Senkung der Arbeitskosten fuer japanische Unternehmen und bei der Senkung der Arbeitslosenquote gespielt. Die ?Freeterg sind in der japanischen Arbeitsmarktstatistik nicht als Arbeitslose registriert, auch wenn sie zum Beispiel nur zwei Tage pro Woche arbeiten.

Die Freeter stellen jedoch eine grosse Bedrohung fur das japanische Sozialversicherungssystem dar.

In Japan muessten Selbstaendige, Hilfskraefte wie Freeter und Beschaeftigte im befristeten Arbeitsverhaltnis Beitrag in die gesetzliche Basisrentenversicherung einzahlen.

Aber im Jahr 2004 haben 36% dieses Personenkreises keinen Beitrag eingezahlt, weil ihr verfuegbares Einkommen niedrig ist, und weil sie denken, dass es sich nicht lohnt, den Beitrag in die Basisrentenversicherung einzuzahlen. Im Jahr 2004 hatte die gesetzliche Basisrentenversicherung ein Defizit von 170 Milliarden Yen (oder 1,1 Milliarde EUR).

Noch bedenklicher ist die Zunahme der jungen Japaner, die sich weigern, zu arbeiten oder zu lernen. Diese Schicht wird ?NEETg (Not in Employment, Education or Training) genannt. Ein japanisches Forschungsinstitut schaetzt, dass die Anzahl der NEET bis 2010 auf 980.000 wachsen wird. Ich betrachte die Zunahme von Freeter und NEET als ein besorgniserregendes Symptom der japanischen Krankheit.

Auch in Japan wird deswegen die Kluft zwischen den Habenden und Nichthabenden immer groesser. Aber die Mittelschicht schrumpft in Japan noch schneller als in Deutschland.

Laut einer Untersuchung einer amerikanischen Investmentbank Merrill Lynch haben 1,4 Millionen Japaner ein Privatvermoegen ueber 1 Million USD. Es macht 1,1% der Bevoelkerung aus.

In Deutschland haben nur 12.000 Personen oder 0,02% der Bevoelkerung ein Privatvermoegen uber 1 Million EURO.

Das Privatvermoegen der Japaner mit Vermoegen uber 1 Million USD ist zwischen 2003 und 2005 um 50 Billionen Yen (333 Milliarden Euro) gestiegen.

16% der Personen mit Privatvermoegen uber 1 Million USD in der ganzen Welt sind Japaner. Die Japaner kaufen 46% aller Luxusgueter in der ganzen Welt. Ein franzoesischer Luxusgueterhersteller Louis Vuitton verdient mehr als die Haelfte des Gewinns aus Japan.

Auf der anderen Seite begehen jedes Jahr seit 1998 mehr als 31.000 Japaner und Japanerinnen Selbstmord. Es bedeutet, dass durchschnittlich 85 Personen pro Tag Selbstmord begehen. Das sind schreckliche Zahlen.

Die Zahl des Freitodes ist nach dem Platzen der spekulativen Seifenblase drastisch gestiegen. Laut dem japanischen Polizeiamt ist die wirtschaftliche Notlage der Hauptgrund des Selbstmords unter den Personen zwischen 20 und 50 Jahren.

Ich fahre jedes Jahr einmal nach Tokio. Da bemerke ich, dass die S-Bahn, die ich jeden Tag benutze, waehrend meines Aufenthalts mindestens einmal auf der Strecke steht, weil sich jemand vor den Zug geworfen hatte.

Wenn ich einen wichtigen Termin in der Stadtmitte habe, muss ich deswegen zusaetzlich eine halbe Stunde fuer den Fall einplanen, dass der Zug wegen des Selbstmords steht.

An den Fluessen oder im Park in Tokio sieht man zahlreiche Huetten, die die Obdachlosen aus Pappkarton und blauem Kunststoffplan selbst gebastelt haben. Auch in der Unterfuehrung des Bahnhofs in der Naehe vom luxurioesen Einkaufsviertel Ginza schlafen die Verlierer des Wettbewerbs. Diese Opfer sind Symbole der Gesellschaft ohne engmaschiges Sozialnetz.

Manche Oekonomen benutzen den so genannten Gini- Koeffizienten um den Unterschied des Einkommens in einer Gesellschaft zu quantifizieren. Je groesser der Gini- Koeffizient, desto groesser der Einkommensunterschied. Waehrend im Jahre 2000 der Gini- Koeffizient in Deutschland 0,252 war, war es in Japan 0,322 im Jahre 2001.

Einer Meinungsumfrage der japanischen Regierung im Jahr 1996 zufolge haben 57,4% der befragten Japaner ihre Sozialschicht als ?Mitte in der Mittelschichtg bezeichnet. In 2004 ist dieser Anteil auf 52,8% gesunken. Im Gegensatz dazu ist der Anteil der Japaner, die ihre Sozialschicht als ?unten in der Mittelschichtg bezeichnet haben, von 23% auf 27,1% gestiegen. Auch der Anteil der Unterschicht stieg von 5,2% auf 6,5%.

Im Jahre 1996 hatten laut Japanischer Zentralbank 10,7% der Haushalte in Japan kein Sparguthaben. Im Jahr 2005 ist dieser Anteil auf 23,8% gestiegen. Waehrend vermoegende Japaner immer reicher werden, hat jeder vierte Haushalt in Japan kein Geld auf dem Bankkonto.

In Deutschland ist der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen von 1998 bis 2003 von 12,1 % auf 13,5% gestiegen. Hier sehe ich aehnliche Tendenzen in beiden Laendern.

6.  Wettbewerb der Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle ?

Ich persoenlich halte viel vom Sozialgedanken in Deutschland.

Ich hatte 8 Jahre in Japan und 1 Jahr in den USA gearbeitet, bevor ich 1990 nach Deutschland kam.

Deswegen kann ich die verschiedenen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle der drei Laender vergleichen.

Ich finde das Wirtschaftsmodell ?die Soziale Marktwirtschaftg in Deutschland am menschlichsten. Es passt der deutschen Mentalitaet auch gut.

Die Tatsache, dass viel weniger Arbeitszeit in Deutschland im Vergleich zu den USA oder England wegen Streiks verlorengeht, ist ein Beweis der Staerke des deutschen Konsensmodells.

Deutschland ist das einzige Land unter den grossen, fuehrenden Industrienationen, die durch das System der Mitbestimmung den Arbeitnehmern so viel Mitspracherecht gewaehrt. Die Angestellten in Japan und Amerika koennen sich solch ein arbeitnehmerfreundliches System ueberhaupt nicht vorstellen.

Ich wuerde deswegen die Soziale Marktwirtschaft als ?Kapitalismus mit menschlichem Antlitzg nennen und hoffe, dass dieses System auch in Zukunft erhalten bleibt.

Die Kritik am traditionellen deutschen Modell nimmt jedoch zu. Ich erinnere mich, dass ein Vertreter des Arbeitsgeberverbandes in Deutschland die Mitbestimmung als ?Irrtum der Geschichteg bezeichnet hat.

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Peter Drucker hat kurz vor seinem Tod in einem Zeitungsinterview gesagt, dass die deutsche Soziale Marktwirtschaft in der Zeit der Globalisierung nicht passend ist. Josef Ackermann, den ich dieses Jahr schriftlich interviewt habe, hat gesagt, dass Deutschland ueber seine Verhaeltnisse lebt.

Auch in Deutschland legen mittlerweile viele Unternehmen grossen Wert auf ?Shareholder Valueg. Aber wenn man versuchen sollte, das angelsaechsische Wirtschaftsmodell in Deutschland ohne Anpassung zu uebertragen, wuerde es nicht reibungslos funktionieren, weil jedes Land verschiedene Werteinstellungen hat.

Zum Beispiel sollten die Unternehmen meiner Meinung nach nicht nur das Interesse der Aktionaere, sondern auch andere ?Stakeholdersg wie Kunden, Mitarbeiter, Gesellschaft, Zulieferer und Banken beruecksichtigen.

Vielen Japanern fallt es noch schwerer als in Deutschland, der Steigerung der Aktionaerswerte die hoechste Prioritaet zu geben. Nach den Skandalen bei amerikanischen Grossunternehmen wie Enron oder Worldcom stellen immer mehr Japaner die amerikanischen Ansaetze in Frage.

Deswegen sollten deutsche und japanische Unternehmen meines Erachtens einen dritten Weg zwischen dem traditionellen rheinischen Kapitalismus und dem angelsaechsischen Wirtschaftsmodell finden. In Zukunft wird es mehr Wettbewerb zwischen den verschiedenen Wirtschaftsmodellen in der Welt geben.

7.  Sind Deutschland und Japan reformfaehig ?

Ich halte eine grundlegende Reform der deutschen Wirtschaft fur unverzichtbar und ueberfaellig, um die Soziale Marktwirtschaft ueberlebensfaehig zu machen. Ich finde es notwendig, den Buergern Anreiz zur Leistung und den Arbeitslosen Anreiz zur Wiederaufnahme der Arbeit zu geben.

Der ehemalige Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Professor Michael Stuermer hat bei einem Vortrag gesagt, dass sich die Deutschen ?vom Gift der Staatsabhaengigkeitg befreien muessen.

Deutschland sollte sich meiner Meinung nach umgestalten, damit die Unternehmen die Produktivitaet erhoehen, Mehrwert steigern und den Anreiz bekommen, hier mehr zu investieren. Die Wertschoepfung muss verstaerkt werden, um unser teures Sozialsystem weiter finanzieren zu koennen.

In einem Land mit hohen Arbeitskosten finde ich es wichtig, dass sich die Unternehmen auf Produkte oder Dienstleistung mit hohem Mehrwert konzentrieren.

Im Moment ist die Wachstumsrate von Deutschland eine der niedrigsten in der EU. Damit Deutschland die Wachstumsschwaeche uberwinden kann, braucht es meiner Meinung nach noch mehr Innovation.

Viele auslandische Beobachter denken, dass Deutschland dringend mehr Wettbewerb braucht, und viele Buerger wachgeruettelt werden sollten.

Ich halte es deswegen im Prinzip fuer richtig, dass die Rot-Grune Koalition unter Schroeder endlich mal die Reformansaetze in die Tat umgesetzt hat, auch wenn es leider fuer manche Buerger soziale Haerte bedeutet hat. Sonst droht die Gefahr, dass das ganze Sozialsystem nicht mehr tragfaehig sein wird.

Wie ist die Situation in Japan?

Auch der fruehere japanische Ministerpraesident Koizumi hat die Strukturreform in Gang gesetzt, obwohl die Zielrichtung anders als in Deutschland war. Meiner Meinung nach war sein Reformansatz kein direkter Beitrag fuer die Staerkung der japanischen Wirtschaft, sondern die Realisierung seiner persoenlichen Ambition, die politische Struktur Japans grundlegend zu aendern.

In der Tat war der Kraftakt von Koizumi ein einmaliges politisches Phaenomen.

Er hat zum Beispiel die Macht des Kanzleramts erheblich gestaerkt und den Einfluss und die Entscheidungsbefugnisse der einst maechtigen Ministerien, insbesondere des Finanzministeriums und Handels und Industrieministeriums reduziert. Diese zwei Ministerien, die 50 Jahre lang nach dem Krieg die Marschrichtung der japanischen Wirtschaft strategisch und massgeblich mit gestaltet hatten, haben die Macht verloren.

Koizumi hat die Privatisierung der Post und die Senkung der Staatsausgaben fur die Ankurbelung der Konjunktur und der Neuverschuldung realisiert, obwohl viele Abgeordnete von seiner eigenen Partei LDP heftigen Widerstand geleistet haben. Dadurch wollte er langfristig die Struktur der japanischen Wirtschaft aufbrechen, die lange unter der rigiden Kontrolle der Ministerien und der LDP war.

In diesem Sinne wird er als grosser, exzentrischer Reformer in die japanische Geschichte eingehen. Aber seine Motivation war eher politische Ambition als Notwendigkeit, die japanische Wirtschaft wettbewerbsfaehiger und schlagkraeftiger zu machen.

Zum Beispiel war die Privatisierung der Post eins der wichtigsten politischen Ziele von Koizumi, und es wurde zum Kernthema der letzten Generalwahl in Japan. Aber es hat nichts mit der Staerkung der internationalen Wettbewerbsfaehigkeit oder mit der Senkung der Arbeitskosten zu tun.

Im Jahr 2004 hat zwar die japanische Regierung eine Rentenreform angekuendigt und entschieden, den Beitragssatz fur die gesetzliche Rentenversicherung von derzeit 13,58% auf 18,3% im Jahr 2017 zu erhoehen, um das Defizit zu beseitigen.

Aber die Regierung erwartet schon im Jahr 2050 ein Defizit in Hoehe von 1,3 Billionen Yen (8,6 Milliarden Euro). Die negativen Auswirkungen auf die Arbeitskosten und die Wettbewerbsfaehigkeit durch die Beitragserhoehung waren dabei nicht beruecksichtigt. In Deutschland wurrde man solch eineAenderung nicht ?Rentenreformg nennen.

Im Vergleich zu Deutschland, wo so viel und heftig uber die Reform der Rentenversicherung und der Krankenkasse debattiert wurde, hat die japanische Regierung relativ wenig fur die Sozialreform getan. Die japanische Gesellschaft steht ziemlich ratlos der Alterung der Gesellschaft gegenueber.

8. Was Japaner von Deutschland lernen koennen

Die Alterung der Gesellschaft ist eine der ernsthaftesten Bedrohungen fuer Deutschland und Japan. Die Geburtenrate in Japan im Jahr 2005 war 1,25 und noch niedriger als in Deutschland. In Tokio betrug die Geburtenrate sogar nur noch 0,98.

In den kommenden Jahrzehnten werden sowohl Deutschland als auch Japan ernsthaften Rueckgang der Arbeitskraft erleben, was die Leistungskraft und die Binnennachfrage beeintraechtigen koennte.

Die japanische Gesellschaft wird noch schneller als in Deutschland altern, weil wir viel wenigere Immigranten akzeptieren, und der Auslaenderanteil in der Bevoelkerung nur noch 1,5% betraegt.

Die Bundesregierung hat ein Gesetz in Kraft gesetzt, das die Zuwanderung der ?besten Koepfeg nach Deutschland foerdern soll, die gleichzeitig auch Steuer und Sozialversicherungsbeitraege zahlen. In Japan fordert zwar die private Wirtschaft aehnliche Ansatze, aber die Regierung handelt meines Erachtens nicht rasch genug.

Ich habe den Eindruck, das die Deutschen viel mehr Interesse zu diesem Thema als die Japaner zeigen. Es ist vielleicht darauf zurueckzufuehren, dass die Deutschen besser als wir langfristig denken und einen grosen Wert auf die Planungssicherheit legen.

Was koennen wir noch von Deutschland lernen? Laut einer Studie der OECD ueber die Arbeitsproduktivitaet hatten japanische Industrieunternehmen den 4. Platz unter 24 Industrielaendern.

Die japanischen Industrieunternehmen sind also in der oberen Klasse im Wettbewerb um die Kostensenkung und Arbeitsprozessoptimierung.

Interessanterweise zeigt eine andere Studie zur Produktivitaet der gesamten Industrie, dass Japan den 20. Platz unter 30 Laendern hat. Unsere Produktivitaet war um 24% niedriger als Deutschland und 30% niedriger als die USA.

Es bedeutet, dass die Produktivitaet der japanischen Angestellten viel niedriger als andere Laender ist.

Selbst viele japanische Angestellte denken, dass ihre Arbeitsablaeufe zu kompliziert sind. Die internen Abstimmungsverfahren, die Vorbereitung der Unterlagen fur interne Praesentationen und die komplizierten Entscheidungsprozesse nehmen zu viel Zeit in Anspruch. Es kann zur Reduzierung der Zeit fur Kundenkontakt oder fur noch kreativere Arbeit fuehren.

In Japan gibt es immer noch viele Unternehmen, wo Mitarbeiter einen Computer mit anderen Kollegen teilen. Aus diesen Gruenden haben wir die laengste Jahresarbeitszeit der Welt. Einige von meinen ehemaligen Kollegen, die im japanischen Fernsehsender gearbeitet haben, sind an den Folgen der hohen Arbeitsbelastung relativ jung gestorben oder schwer krank geworden.

 

Ich weiss, das viele deutsche Unternehmen generell weniger burokratisch als japanische Untenehmen sind, und versuchen, durch die Digitalisierung und Prozesvereinfachung die Effizienz zu steigern, auch wenn interne Kommunikation manchmal leidet.

Ich glaube, dass wir bezueglich Produktivitaet der Angestellten noch viel mehr von Deutschland lernen koennen.

Meiner Meinung nach ist die Situation der japanischen Arbeitnehmer im Zeitalter der unstabilen Arbeitsplaetze viel prekaerer als die der deutschen Arbeitsnehmer, weil wir keine Arbeitsvertraege, Sozialplan, Interessenausgleich oder Kuendigungsschutz haben. Ich glaube, dass wir ein aehnliches System auch in Japan einfuehren sollen, um das Interesse der Arbeitsnehmer zu schuetzen, obwohl fast niemand im Moment daran denkt.

Der ehemalige Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Professor Michael Stuermer hat bei einem Vortrag gesagt, dass manche auslaendische Beobachter Deutschland als ?Sick man of Europeg bezeichnen. Deutschland ist jedoch meines Erachtens noch nicht verloren. Ich bin zuversichtlich, dass Deutschland in Zukunft wieder zur oberen Klasse der Rangliste der internationalen Wettbewerbsfaehigkeit ruecken wird.

Ich glaube, dass niemand im Moment Japan ?Sick man of Asiag nennen will, besonders weil die japanische Wirtschaft jetzt Anzeichen der dynamischen Verbesserung zeigt. Aber eine kurzfristige gute Konjunktur kann die strukturellen Probleme langfristig nicht loesen.

Der Mangel an der langfristigen Planung und am strategischen Denken ist die Schwaeche des heutigen Japans. Die japanische Regierung hat immer noch kein Rezept, um der drohenden japanischen Krankheit vorzubeugen.

Ich finde es sinnvoll, das Fuehrungskrafte der deutschen und japanischen Wirtschaft, Intellektuelle und Akademiker beider Laender Gedanken und Erfahrungen austauschen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts besser meistern zu koennen. In diesem Sinne freue ich mich auf rege Diskussionen mit Ihnen.

Vielen Dank fur Ihre Aufmerksamkeit.